Hand aufs Herz: Wer von den Älteren hat es nicht getan? Und wenn schon nicht getan, dann wenigstens davon geträumt, es ersehnt, sich vorgestellt. Es ist ja auch nicht immer möglich gewesen, weil es nicht überall Brauch ist, das Fensterln, das „nachts zur Geliebten gehen, besonders ans oder durchs Fenster“, wie es im Wörterbuch des österreichischen Deutsch heißt. Und heute schon gar nicht mehr, denn jetzt gibt es andere Möglichkeiten, mit der Geliebten, der Angebeteten, der Freundin Kontakt aufzunehmen, sei es über E-mail, SMS oder Telefon, bei Partys oder Festen, ganz abgesehen davon, dass man gar kein Fenster mehr braucht, sondern ohne viel Aufhebens durch die Schlafzimmertür geht oder die Dünen am Strand zu Liebesräumen macht. Schließlich wohnen heute viele junge Leute nicht mehr bei ihren Eltern und die Sitten und Bräuche sind lockerer, so dass das Fensterln anderen Künsten der paarweisen Zuneigung Platz gemacht hat. Sogar in Bayern und im Innviertel wird heute schon vorwiegend virtuell g’fensterlt, d.h. interaktiv im Internet.
Allerdings glitt auch schon damals, also in den 1950er Jahren, diese Art der Brautwerbung manchmal ins Spaßige, ja Spielerische ab, auch wenn es durchaus klare Regeln gab. So war im oberösterreichischen Innviertel der Freitag für das Fensterln der Jungen reserviert, das Wochenende gehörte allerdings den Fortgeschrittenen, am Mittwoch waren dann die Lausigen, also die Jüngsten, dran. Und da gab es immer wieder Fälle, in denen das Bett bereits besetzt war und der Bewerber am Fenster sich gerade über den im Bett befindlichen Liebhaber übel äußerte oder einem Brautwerber von den Konkurrenten im wahrsten Sinne des Wortes die Leiter unter den Beinen wegrissen wurde. Das geschah vor allem dann, wenn mehrere Anwärter zugegen waren und der auf der Leiter stehende den dreimaligen Ruf „Platz“ nicht befolgte und die Leiter nicht frei machte. Umgekehrt kam es auch vor, dass eine Leiter immer wieder unter das Fenster der vermeintlich Angebeteten gestellt wurde, um sie in Verruf zu bringen. Peinlich und gefährlich konnte es werden, wenn das falsche Fenster erreicht wurde. Für die Einheimischen war das Fensterln aber nicht nur ein Weg zur Geliebten, sondern auch ein Mittel des Klatsches und Tratsches, ja geradezu ein Kommunikationsforum, das sonntags am Kirchplatz durch Blicke und Beschimpfungen seine Fortsetzung fand.
In manchen Gegenden galt das Fensterln allerdings als eine besondere Spielart einer „Kommnacht“, in der der Liebhaber möglichst gefahrvolle Wege überwinden musste, um in die Kammer seiner Angebeteten zu gelangen und so seine Liebe zu beweisen – so wie es Proben der Geschicklichkeit noch heute bei Hochzeiten gibt. Wie überhaupt das Fensterln zu einer Reihe von Lausbubensstreichen, wie dem von Haus zu Haus Fahren oder das Verstellen der Haustür, führte. So wurde in vielen Gegenden Österreichs zu Ostern das Ostereifahren und zu Weihnachten das Kletzenbrotfahren betrieben, um von der Geliebten, unter Umständen auch durch einen geschickten Griff durchs Fenster, Ei oder Brot zu erhaschen. Schon im Venedig des 18. Jahrhunderts sagte eine enttäuschte Geliebte zu Giaccomo Casanova: „Casanova, ich habe mein Fenster offen gelassen.“ Und schon vor Jahrhunderten haben die indischen Rajastani das Fensterln gepflegt. Andererseits gehörte das Fensterln in bestimmten Gegenden Deutschlands wie in Hessen nicht zum kulturellen Erbe, wird deshalb schon immer als Hausfriedensbruch geahndet und rechtfertigt die fristlose Kündigung des Mietverhältnisses. Mit dem Fensterln haben allerdings die „Fensterhennen“ nichts zu tun, die früher in Städten wie Wien Freier mit ihren Reizen in üble Spelunken gelockt haben – ähnlich wie die Damen, die sich in den Schaufenstern noch heute auf der Reeperbahn in St. Pauli präsentieren.
Dass das Fensterln nicht immer glimpflich ausgehen muss, beweist auch ein Fall in meinem Heimatort Altenmarkt im Pongau, wo in den 1930er Jahren eine der hübschen Töchter des damaligen Nachbarn am Bahnhof eines Nachts über eine Leiter Besuch bekam. Der Besucher erreichte aber nicht das ersehnte Fenster, denn der Vater der Tochter entdeckte ihn und erschoss ihn kurzerhand. Die Tat blieb ungesühnt, auch wenn das Gerücht, dass der Vater in dem Erschossenen nicht einen Einbrecher, sondern einen unerwünschten Bewerber gesehen haben soll, noch längere Zeit die Runde machte.
In meinem Falle entpuppte sich das Fensterln als eine Lektion fürs Leben. Sie kam zustande in der ersten Hälfte der fünfziger Jahre, in denen ich die Sommerferien bei meinem Firmpaten – in Österreich genannt Firmgöd – in Geretsberg, im oberösterreichischen Innviertel, verbrachte. Ich ging zu dieser Zeit zur Hauptschule in Radstadt, und mein Firmpate Ferdinand Scharinger, der Frächter und Landesproduktenhändler kam oft zu Besuch zu meinen Eltern in die Bahnhofsgastwirtschaft in Altenmarkt im Pongau, vor allem wenn ein Pferdemarkt, der so genannte Rösslmarkt, stattfand. Und solche Rösslmärkte fanden im Salzburgischen Pongau in mehreren Orten jedes Jahr statt, so auch in Radstadt oder Embach.
Ferdinand Scharinger war nicht nur ein angesehener Unternehmer, sondern auch ein Pferdenarr. Er war scharf auf Pferde, vor allem Fohlen, und besuchte gerne die Pferderennen, die auf der Salzburger Trabrennbahn stattfanden. Er schaute sich die Tiere genau an und kaufte, was der Geldbeutel hergab und der schon wartende LKW transportieren konnte. Mein Vater kannte Ferdl noch aus seiner Innviertler Heimat, denn er stammte aus Eggelsberg, dem Nachbardorf von Geretsberg. Mein Vater musste schon nach der zweiten Klasse Volksschule zum Geldverdienen als Schafhirte arbeiten, und so kam er in der Gegend viel herum und kannte alle Bauernhöfe und Betriebe recht gut, auch die Scharingers. Nach dem Zweiten Weltkrieg baute dann Ferdinand Scharinger ein kleines Imperium auf, bestehend aus Landwirtschaft, Vertrieb landwirtschaftlicher Produkte, Spedition und Sägewerk.
Und so kam es, dass er meinem Vater eines Tages anbot, Firmpate seines kleinen Pferdeassistenten, des Hermännchens, zu werden. Im Mai 1952 stand die Firmung in Altenmarkt im Pongau an und zwei Monate später durfte ich die Sommerferien in Geretsberg am Hof der Scharingers verbringen. Das wiederholte sich in den nächsten drei Jahren – eine schöne Zeit, auch wenn mich im ersten Jahr das Heimweh ziemlich plagte und ich so manche Ängste ausstehen musste. Vor allem bekam ich Angst, weil die Amis im nahe gelegenen Wald, in den Ausläufern des Weilhartforstes, Manöver durchführten, die in mir die böse Ahnung aufkommen ließen, ob das nicht Krieg bedeutete. Und ich war so weit weg von zu Hause, ganze 110 km – damals eine kleine Tagesreise über dreckige Landstraßen, durch Dörfer, kleine und größere Städte, Pässe und schmale Gebirgsstraßen.
Vor allem konnte ich die Soldaten von meinem Fenster vom Hof der Scharingers aus beobachten. Links neben diesem Fenster war ein weiteres Fenster, wo die Scharinger Köchin, die blonde Susi, wohnte. Eines Tages wachte ich in der Nacht auf und hörte ein eigenartiges Geräusch an der Hauswand, als ob da jemand eine Leiter hoch stieg. Als ich genauer hinhörte, ging nebenan tatsächlich das Fenster auf und zwei Menschen begannen, miteinander zu tuscheln, nur getrennt durch scheinbar unüberwindbare, gekreuzte, eiserne Gitterstäbe. Die Unterhaltung verflog nach einer Weile, und es trat Stille ein, nur hin und wieder knarrte die Leiter oder quietschten Haut und Lippen der Liebenden, die sich berührten. Immer wieder, bis ich wieder einschlief. Das wiederholte sich ein paar Mal, auch im nächsten Sommer, auch wenn dann längst ein anderer Bursche auf der Leiter stand.
Und im Sommer 1954, im Wunder-von-Bern-Sommer, den ich am Rundfunk miterlebte und der mich wegen des verlorenen Spiels Österreichs gegen Deutschland sehr enttäuschte, ja wegen der hohen Niederlage von 6:1 in mir schon damals den Verdacht eines getürkten Spieles aufkommen ließ, also in diesem Sommer fuhr ich oft mit Walter Scharinger, dem Sohn von Ferdinand Scharinger, „ins Gai“, wie man dort sagte, um bei den Bauern Butter, Eier und Hühner, so genannte Landesprodukte, einzukaufen, die dann am folgenden Donnerstag am Schrannenmarkt in Salzburg verkauft wurden. Walter war gut zwei Jahre älter als ich und fuhr damals schon mit PKW und Anhänger durch die Gegend, ohne Führerschein. Auf diese Weise lernte ich die Umgebung kennen, auch die Leute in Geretsberg und den Nachbarorten. Auch so manches hübsche Mädchen, das aber nicht so sehr mir, sondern Walter ins Auge fiel. Er schwärmte oft, nachdem wir „ins Gai g’foan san“, von der einen oder anderen. Und so kamen wir in der Nähe der Scharingers beim Kronberger Hof vorbei, der der Familie Flachner, meinen Verwandten, gehörte. Dort verbrachten gerade zwei hübsche Mädchen aus dem Ruhrgebiet ihre Ferien. Sie waren in meinem Alter, vielleicht ein oder zwei Jahre älter.
Bei einem Nachbarn der Scharingers war ebenfalls ein Bub in meinem Alter zu Gast, dem ich von den beiden erzählte und so schmiedeten wir einen Plan. Freilich nicht ohne Walter davon zu erzählen und seine Einschätzung der Lage einzuholen. Er ermutigte mich und erklärte mir bis ins kleinste Detail, worauf ich achten und wie ich’s anstellen solle, sowohl vor dem Fenster als auch nach dem Einstieg ins Schlafzimmer, falls das gelingen sollte. Und es gelang. Nach einer kurzen Schmuserei am Fensterkreuz einigten sich die erregten Knaben auf den beiden nebeneinander stehenden Leitern, in die Höhle der Jungfrauen einzudringen. Welch’ eine Qual! Zunächst. Denn die Fensterkreuze waren verdammt eng, und erst nach einigem Hin und Her, Vor und Zurück kam ich durch mein Kreuz und landete im Schlafzimmer der beiden Jung-Urlauberinnen. Und gleich darauf im Bett der hübschen Gudrun S. aus Essen. Und ich hielt mich an die Anweisungen von Walter, auch wenn die Kuschelei ein paar Stunden dauerte. Und das zu viert in einem Ehebett im Jahre 1954!
Am nächsten Tag sah mich Berta Scharinger, Walters Mutter, und deutete auf meine Schürfwunden an beiden Oberschenkeln. Sie wunderte sich, aber ich hatte, dank Walter, eine gute Ausrede parat. Allerdings keine Ausrede konnte Resi Flachner, die Kronberger Bäuerin, beruhigen, die offenbar etwas mitbekommen hatte und mich darauf hin beschimpfte. Nicht weil sie das Fensterln schlimm gefunden hätte, sondern weil sie Angst hatte, dass da etwas hätte passieren können: Nein, nicht das, sondern ein Sturz von der Leiter, Fensterscheiben oder Beine, die zu Bruch gehen, Steckenbleiben im Fensterkreuz oder Ähnliches.
Die Wunden am Oberschenkel verheilten schnell, der Kontakt zu meiner neuen Freundin setzte sich fort in einem über Jahre dauernden Briefverkehr. Nur Walter war nicht ganz zufrieden mit meiner Ausbeute. Er meinte, da sei mehr drin gewesen, zumal das fensterliche Hindernis schon überwunden worden sei. Ja, und bald hätte ich es vergessen, die Lehre fürs Leben: Nichts ist unmöglich!
Aus dem Buch: Gestatten, bestatten! Siebzehn nicht nur abwegige Kurzgeschichten.
Duisburg: Gilles & Francke Verlag, 2012
von Hermann Strasser