Als der „candy man“ kam – Erinnerungen an das Ende des Zweiten Weltkriegs

Zur Erinnerung an das Ende des Zweiten Weltkriegs und meine Kindheit, bevor ich 1947 in die Volksschule in Altenmarkt kam:

Die Regenbogen-Division der Amerikaner hatte sich inzwischen heimisch gemacht in Altenmarkt. Die Wehrmacht und wenig später auch die SS-Einheiten, die sich ins Zauchtal zurückgezogen hatten, ergaben sich. Die Nazi-Funktionäre kamen ins Lager Glasenbach bei Salzburg. Auch für die Amis begann jetzt ein Kampf ums Überleben, auch wenn sich damals wie im Krieg selbst viele Amerikaner nicht einig waren, ob das Nazi-Regime oder das gesamte Dritte Reich ihr Feind gewesen sei. So wie früher die Angehörigen der Wehrmacht das Vieh von der Weide gestohlen hatten, taten das jetzt die GIs, auch wenn sie nicht, wie früher die deutschen Soldaten, bei den Bauern brav um Milch anstanden. Proviant musste auch für die beiden Gefangenenlager im Hornerfeld neben der Volksschule und beim Neuhäusl im Zauchtal besorgt werden. Im Dechantshof richteten die Amis einen Reitstall ein – für dienstliche und private Zwecke. Auch ein Kutschwagen, der heute im Altenmarkter Heimatmuseum besichtigt werden kann, war dabei. Ross und Reiter zogen freilich auch die Mädchen aus der Umgebung an manchen Tagen geradezu magisch an. Die Buben dagegen spielten nicht selten mit dem Feuer, denn Panzerfäuste, Minen, Handgranaten und Pistolen lagen zu Hauf herum. So erwiesen sich Handgranaten sogar hilfreich, wenn es um das Fangen der Fische und Frösche für den dringenden Hausbedarf ging.

Bei den Hausdurchsuchungen in Altenmarkt und Umgebung wurden nicht so sehr Waffen und Nazis entdeckt, als vielmehr Schnaps und Essbares konfisziert. So auch eines Tages, als amerikanische GIs mit schussbereiter Waffe in der Tür zur Sitzküche in der Bahnhofsgastwirtschaft standen und für die Truppe die Herausgabe von Essbarem verlangten. Mein Vater reagierte nicht, weil er deren Sprache nicht verstand (oder nicht verstehen wollte) und grundsätzlich etwas gegen das Militär und militärisches Auftreten hatte. Nur das missverstanden jene wiederum und machten meinem Vater mit Hilfe der Körpersprache klar, was sie wollten: ihr Essen oder sein Leben, auch wenn sie es wahrscheinlich nicht ganz so ernst meinten. Und so marschierte mein Vater mit dem „Sergeant“ in den Keller und kam mit Gulasch in Hülle und Fülle wieder nach oben – sehr zur Freude der Soldaten, die, wie schon früher und danach bei Manövern am Bahnhofsgelände, sich mir gegenüber sehr freigebig zeigten: mit Schokolade. Nicht nur mir gegenüber, denn wir alle bettelten: „Merkana, an Lati!“ Es war, als ob Sammy Davis Jr.’s „candy man“ gekommen wäre, „who makes the world taste good“. Und sie machte die Amis zu den „besseren Österreichern“, nicht nur in Westdeutschland zu den „besseren Deutschen“. Andere sammelten fleißig Pistolen, Munition und Schießpulver, nicht ohne auch das Abenteuer des Entzündens zu wagen. Gefährlicher Spaß! …

Mit den amerikanischen Besatzern kam in den Altenmarkter Haushalten auch Polenta und gelbes Maisbrot auf den Küchentisch. Sie lieferten den Mais, der in den Mühlen der Bauern zu Mehl und Grieß gemahlen wurde. Wie schon während des Krieges, ging es nicht ohne Lebensmittelkarten, um die Versorgung sicherzustellen, auch wenn in vielen Fällen beim Krämer nichts mehr zu bekommen war. So blühten die Selbstversorgung, vor allem über Obst- und Gemüsegärten, und das Hamstern. Das reichte von Obst und Gemüse bis zum Fleisch und von der Wolle der Schafe bis zu den Häuten geschlachteter Tiere, die zu Leder verarbeitet wurden. Wahrscheinlich spielten die Erdäpfel, die Kartoffel, als Nahrungsmittel die entscheidende Rolle beim Überleben im Krieg, hatten doch gegen Ende des Ersten Weltkriegs sogar Bauern gehungert, weil sie keine Kartoffel mehr ernten konnten. Nur zu gut kann ich mich an den Schuster Krallinger erinnern, der zu den Bauern auf Stör ging, oder an meinen hamsternden Vater, der zu seinen Verwandten ins Innviertel fuhr und mit Fleisch, Fellen und Gemüse bepackt heimkehrte. Auch in den ersten Jahren der Nachkriegszeit musste man mit allem, vor allem mit den Kleidungsstücken, sparsam umgehen, sie so lange wie möglich nutzen, keinesfalls wegwerfen, sondern weitergeben oder weiter nutzen. Schon in der NS-Zeit sollte ein Teil der Oberbekleidung und Wäsche von den Frauen selbst hergestellt werden, auch mit Hilfe der Schneiderinnen, die ins Haus kamen. Nach Kriegsende wurden auch Uniformhosen weiter getragen, weil man oft nur diese besaß, auch wenn die Alliierten das Tragen von NS-Uniformen verboten hatten. Die Parteiabzeichen kamen ohnehin ins Schmuckkästchen. Unser Anbau zur Eisenbahn hin, das „Salettl“, diente in diesen Jahren als Lagerstätte für alles, zunächst für die Sachen der Familie Hauptmann. Dann wurde daraus für einige Zeit so etwas wie ein Zweitehand-Laden. Vor allem Schuhe wurden abgegeben und verkauft. Wie mein Vater überhaupt gern „schacherte“, d. h. verkaufte und feilschte. (…)

Auch die amerikanischen Soldaten wurden bestohlen, denn sie hatten Schokolade, Zigaretten und Konserven. Und viele Mädchen ließen sich aus Not mit GIs auf so manche „Gspusi“ ein, obwohl die GIs in dem 1944 vom US-Kriegsministerium herausgegebenen Pocket Guide to Germany vor den möglichen Folgen dieser Liebschaften gewarnt wurden. (…) „Alles drehte sich um Kalorien“, beschrieb der Salzburger Historiker Thomas Weidenholzer diese Zeit. Und die Care-Pakete der Amerikaner mit Mehl, Speck, Butter, Rosinen und jeweils einem Batzen Hoffnung kamen erst ab Mitte 1946 zur Verteilung. (…)

Und dennoch wusste man sich zu helfen, wie einer der Protagonisten im Film „Der dritte Mann“ deutlich machte: „Schieben tut hier jeder, sonst würden wir verhungern.“ Oder wie ein österreichischer Divisionskommandant kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs einem britischen Besatzungsoffizier auf die Frage nach dem Stand der Dinge wörtlich geantwortet haben soll: „Die Lage ist hoffnungslos, aber nicht ernst!“ Dem konnte allerdings der Ausspruch des ersten Bundeskanzlers der Bundesrepublik Deutschland, Konrad Adenauer, um die Stimmung in seinem Land auf den Punkt zu bringen, nicht Paroli bieten: „Die Lage ist ernst, aber nicht hoffnungslos.“ Ganz abgesehen davon, dass dieser gefeierte und gern zitierte Ausspruch so was wie ein Plagiat ist, denn er stammt von SNAFU der amerikanischen Armee aus dem Zweiten Weltkrieg, einem Akronym der englischen Sprache für „Situation Normal, All Fucked Up“, das so viel bedeutete wie „Lage normal, alles im Arsch“.

Allein unser Garten war eine blühende Landschaft, und die Ribiselstauden für mich fast schon ein Geschenk Gottes. Ich mochte einfach die Ribisel. Sie schmeckten so gut, und der rückwärtige Teil unseres Gartens war voll davon, daneben auch noch Äpfelbäume. Und mein Vater konnte es nicht lassen und baute immer wieder Kren an, rieb ihn mit Inbrunst und servierte ihn nicht nur zu den Frankfurter Würsteln, sondern auch zum Tafelspitz und wo immer er passte und er die Riecher auf seiner Seite hatte. Nie wäre er auf die Idee gekommen, den Kren unter einem Haufen Obers, zu verstecken. Der Kren gilt als „König der Taschentuch-Speisen“, weil er beim Verspeisen nicht nur Mund und Nase, sondern auch die Nebenhöhlen mit einbezieht, und seine brennende Schärfe dem Konsumenten den Atem rauben und ihn zu Tränen rühren kann. Um das zu vermeiden, hatte mein Vater immer eine sofortige Linderungsmethode parat: Schwarzbrot vor die Nase halten und seinen Geruch tief einatmen! Er liebte den Kren, pflanzte ihn jedes Jahr im Garten, aber ärgerte sich immer wieder bei der Ernte, denn der Kren ist tief verwurzelt und krallt sich regelrecht im Boden fest. Auch deshalb war meinen Eltern der Garten heilig, und noch heute sehe ich das Schild, das vor unserem Garten in Richtung Straße stand und auf dem warnend zu lesen war: „Achtung: Starkstrom im Garten!“ Die Not machte nicht nur erfinderisch.

Unter den amerikanischen GIs, die die genüssliche Schokolade verteilten, könnte auch ein gewisser Mr. Kerbo gewesen sein – der Vater eines meiner ersten Studenten an der University of Oklahoma in Norman, wo ich als Gastprofessor 1971/72 im Soziologie-Department lehrte. Harold Kerbo hatte sich damals auf dem Weg zum Abschluss des Master-Studiengangs befunden, bevor er zur Promotion an das Virginia Polytechnic Institute and State University ging. Wir wurden Freunde, er kam auch als Gastprofessor in den neunziger Jahren nach Duisburg, und 1998 machten wir uns an die Recherchen für ein Buch über Modern Germany für amerikanische College-Studenten. In den vielen Diskussionen über Deutschland und Österreich entdeckten wir, dass sein Vater als GI bei der Besetzung des Landes Salzburg beteiligt und möglicherweise einer der „candy men“ war. Welch’ ein wunderbares Gefühl!

 

von Hermann Strasser, emeritierter Soziologie-Professor der Universität Duisburg-Essen und gebürtiger Altenmarkter.
Auszug aus seiner Autobiografie “Die Erschaffung meiner Welt: Von der Sitzküche auf den Lehrstuhl” (2. Aufl. CreateSpace/Amazon, 2015)